
John Lanchester: Kapital
KAPITAL von John Lanchester erzÀhlt von den tiefgreifenden UmwÀlzungen der Finanzkrise und von den Biografien seiner Protagonisten.
Die HĂ€user in der Pepys Road im SĂŒden Londons haben schon ein gutes Jahrhundert auf dem Buckel. Um 1900 wurden sie erbaut, als die Backsteinsteuer wegfiel. Und lange Zeit waren sie Wohnorte des soliden Mittelstands, bis sich durch die Finanzblase ihr Wert verfielfachte. Nun ist die ĂŒber 80jĂ€hrige Petunia Howe die Einzige, die in der StraĂe geboren wurde und dort noch immer lebt. Die Younts hingegen sind typische Neureiche; Roger arbeitet bei einer Privatbank und hofft auf den fetten 1 Million-Pfund-Bonus, wĂ€hrend seine Frau Arabella lieber mit Freundin Saskia shoppen geht, statt sich um die nervigen kleinen Söhne zu kĂŒmmern – wofĂŒr gibtâs denn KindermĂ€dchen.
Familie Kamal ist ĂŒber ihrem kleinen Kiosk zusammengerĂŒckt. WĂ€hrend der aus Lahore stammende Ahmed hinter dem Tresen steht, pflegen seine beiden jĂŒngeren BrĂŒder ihre islamischen Wertvorstellungen. Shahid war sogar schon als Jugendlicher in Tschetschenien, um seine moslemischen BrĂŒder zu unterstĂŒtzen, hatte dort aber schnell gemerkt, dass ihm das Londoner Leben deutlich besser gefĂ€llt. Quentina Mkfesi aus Zimbabwe wiederum zieht als Politesse den Ărger der Anwohner auf sich, denn niemand ist vor ihren Strafzetteln sicher.
Dabei ahnen ihre Opfer nicht, dass sie als abgewiesene Asylbewerberin selbst eine Illegale ist und unter falschen Namen arbeitet. So haben alle StraĂenbewohner in der Pepys Road ihre eigenen Sorgen, bis eines Tages diese merkwĂŒrdigen Postkarten mit der Aufschrift âWir wollen, was Ihr habt!â auftauchen. KĂŒndigt hier ein geldgieriger Immobilienhai, eine gesetzlose Hausbesetzerbande oder gar ein Einbruchskombinat sein Erscheinen an? Wer auch immer hinter den Drohungen steckt, sie werden immer deutlicher.
Kapitel
John Lanchester wirft in seinem Roman âKapitalâ einen ganz wunderbaren Blick auf eine dieser unzĂ€hligen, gemĂŒtlichen kleinen ReihenhausstraĂen Londons. Eine jener StraĂen also, bei denen man sich immer fragt, wer dort wohl wohnt und was deren Mauern schon alles gesehen haben. Anhand der ewigen Ein- und AuszĂŒge, der Renovierungen und Umbauten in der Pepys Road (die es ĂŒbrigens wirklich gibt, irgendwo im HĂ€usermeer wischen Greenwich und Brixton) zeichnet er den Wandel der gröĂten westeuropĂ€ischen Metropole seit Anfang des 20. Jahrhunderts nach. Zum Ausgangspunkt seiner Geschichte wĂ€hlt John Lanchester jedoch das folgenschwere Jahr 2008. In dem weltweit die Finanzblase der Immobilienbanken platzte und mit ihr auch viele kleine private TrĂ€ume vom groĂen Geld. Und fast unausweichlich beschĂ€ftigt er sich auch mit dem Thema des islamischen Terrorismus – nur zu gut haben die Londoner noch die blutigen U-Bahn-AnschlĂ€ge, ihr â7-7â des Jahres 2005 in Erinnerung.
Wobei Lanchester mit dem Thema jedoch sehr menschlich umgeht. Und hinter dem vermeintlichen Terroristen einen Jugendlichen entdeckt, der auf der Suche nach sich selbst auch falsche Freunde findet. Daneben streift er alle möglichen anderen Aspekte der Stadt, wie den englischen ProfifuĂball oder die Situation der zahlreichen osteuropĂ€ischen Handwerker, verwebt die Geschichten seiner Protagonisten auf unaufdringlich-intelligente Art und verteilt seine Sympathien gerecht zwischen allen. Jede seiner Figuren erhĂ€lt eine zweite Chance, um etwas anderes aus dem Leben zu machen.
Dies alles macht âKapitalâ von John Lanchester zu einem sehr eindrucksvollen Roman. Der die tiefgreifenden UmwĂ€lzungen der Finanzkrise groĂartig auf die individuellen Biografien seiner Protagonisten herunterbricht. Unbedingt lesen!
John Lanchester, geboren 1962 in Hamburg, wuchs im Fernen Osten auf und studierte in Oxford. Er war Restaurantkritiker des „Observer“ und ist stellvertretender Chefredakteur der „London Review of Books“.
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